Von Labyrinthen, dem wuchernden Chaos und
den Räumen dazwischen
Der Plastiker und Maler
Frank Neye im Gespräch mit Cornelia Müller
Das Erste, was mir beim Anblick Deiner
Plastiken in den Sinn kam, war: Diese Arbeiten sind offen, man kann durch sie
hindurchsehen, erkennt innere Strukturen und labyrinthische Räume – sie
strahlen etwas Fragiles aus. Bislang habe ich Plastiken und Skulpturen eher als
massive und abgeschlossene Objekte wahrgenommen. Deine Arbeiten scheinen
durchlässig zu sein.
Für jeden Künstler,
der Skulpturen oder Plastiken fertigt, ist die Gestaltung des Raums ein
zentrales Thema. Die Möglichkeit, innerhalb eines Raums weitere Räume zu
schaffen, die in einem labyrinthischen System miteinander verbunden sind, hat
etwas ungemein Faszinierendes!
Deine
Plastiken sind licht- und luftdurchströmt …
… ja, „und der
Wind wehte die Erde durch die Ritzen in den Türen“.
Wie bitte?
Ich liebe diesen
Song von Kante1: Dieses
Bild, dass nicht die Tür an sich, sondern die in ihr vorhandenen Ritzen für
permanente Durchlässigkeit sorgen, diese Vorstellung von allseitiger Offenheit,
von „Durchwehtsein“, gefällt mir gut.
Du fügst den
Titeln Deiner Arbeiten häufig den Begriff „Rekonstruktion“ hinzu – was hat es
mit dieser Werkgruppe auf sich?
Ausgangspunkt für
meine Rekonstruktionen sind Fragmente bzw. Reste von alltäglichen
Gegenständen wie von Tischen und Stühlen, die ich zum Beispiel auf dem
Sperrmüll finde. Ich spüre dann der Frage nach, welche Form, welches
Eigenleben, ja, fast möchte ich sagen – auch auf die Gefahr hin, etwas
pathetisch zu klingen – „welche Seele“ für dieses Objekt die angemessene, die
richtige und die einzig mögliche war und ist – und baue dann das Objekt in
diesem Sinne wieder auf.
Aber auf einem
von dir wieder aufgebauten Fragment eines Stuhls kann man nach Fertigstellung
nicht mehr sitzen, das heißt, du entbindest damit das
Objekt von seiner ursprünglichen Funktion?
Ja,
unbedingt! – Weil dies erforderlich ist, um das Objekt zu befreien! Die einem
Objekt zugewiesene Funktion ist doch letzthin variabel und austauschbar, sie
ist ein Etikett, das je nach Umfeld und Erfordernis dem Objekt angeheftet oder
abgenommen wird – sie ist somit ohne Bedeutung. Hat nicht Duchamp ein Urinal
zum Kunstwerk erklärt und es im Ausstellungsraum einer Galerie gezeigt?2 In diese museale Keramikschüssel
wird wohl heute niemand mehr seine Notdurft verrichten.
Aber
der Begriff „Rekonstruktion“ suggeriert mir, dass etwas in seinen
ursprünglichen Zustand bzw. in seine ursprüngliche Form zurückversetzt wird.
Das scheint mir bei Deinen Arbeiten jedoch nicht der Fall zu sein!
Nun,
ich interpretiere diesen Begriff anders, da meine Zielrichtung eine andere ist.
Wenn ich zum Beispiel einen kaputten Stuhl vorfinde – sagen wir mal nur ein
Stuhlbein mit den Resten von ein paar Verbindungsstreben –, so stelle ich mir
vor, man würde dieses Fragment als etwas Organisches und Lebendiges betrachten
– ähnlich einer lebenden Zelle – und es in eine Nährlösung tauchen: Wie und in
welche Richtung, mit welchen Formen würde es sich auswachsen oder gar
auswuchern? Es scheint mir, dass sich durch diese Art der Betrachtung mehr
Lebendigkeit und vielleicht sogar ein größerer Grad an Wahrhaftigkeit erzielen
lassen.
Du
sprichst „vom Organischen“ bzw. „vom Lebendigen“ in Deinen Arbeiten. Diese
Begriffe spiegeln sich auch in den anderen Werkgruppen: Ich sehe immer wieder
organische Gebilde – Pilzen oder Flechten gleich –, die an oder aus harten,
geometrischen Objekten herauswachsen. Dieser Kontrast zeigt sich auch im
verwendeten Material: So kombinierst Du zum Beispiel harten Beton mit fragilen
Hölzern.
Dieses
Zusammentreffen empfinde ich nicht nur in der visuellen Wirkung als äußerst
spannend! Diese Vorstellung, dass sich etwas Lebendiges – die von Dir genannten
Pilze und Flechten sind mir ein sympathischer Vergleich – an einem schweren und
massiven Objekt festmacht, dann an ihm emporwächst, es überwuchert, überwindet
und schließlich vereinnahmt, bringt in meinem Innersten einen Resonanzboden zum
Schwingen!
Ein
Erklärungsversuch mit einem eher psychologischen Ansatz könnte lauten, dass
sich in diesem Zusammentreffen ein Grundkonflikt unseres heutigen Lebens zeigt:
Unsere Sehnsucht und unser Streben nach einer individuellen, selbstbestimmten
und freien Gestaltung unseres Lebens in einer genormten, technologisierten und
auf Effizienz getrimmten Umwelt.
Ach
Gott, ja vielleicht – aber vielleicht ist es auch so, dass ich keine Plastiken
mag, bei denen es in letzter Konsequenz nur darum geht, dass Dreiecke und
Quadrate aneinandergereiht werden – diese Formensprache ist mir in ihrer
Wirkung zu antiseptisch.
Ich
möchte gerne noch bei diesem Punkt bleiben und einen Katalogtext zitieren: „[…
] eine geordnete, klassisch anmutende Formenwelt im Zeitpunkt des Umbruchs und
der Wandelung zu archaischen, bisweilen zu labyrinthischen und chaotischen
Strukturen.“
Nun,
es entspricht meiner tiefsten Überzeugung, dass eine jede von Menschenhand und
-geist geschaffene Ordnung – also alles Erdachte, Konstruierte, Berechnete,
Perfektionierte, Gestylte usw. – sowieso nur für einen kurzen Augenblick dem
wuchernden Chaos entrissen werden kann, dann aber von diesem zurückerobert wird
und letztendlich wieder in ihm verschwindet.
Also
alles nur geborgt – ob wir wollen oder nicht?
Ja,
irgendwann klopft dieses wild wuchernde Chaos – oder nennen wir es ruhig mal
den „übermächtigen Schöpfer“ – an die Tür und fordert bzw. nimmt sich sein
Eigentum zurück – ob wir wollen oder nicht!
Spannend und erschreckend zugleich finde ich diese Momente des Umbruchs, wenn unsere
vertraute und geordnete Welt zerbröselt und vom Chaos aufgesogen wird – oft in
einem schleichenden, anfangs vielleicht kaum merklichen Prozess oder auch in
einem plötzlichen, impulsiven Akt: Aber wer kann zum Beispiel das Altern
stoppen, den Tod abschaffen, wer kann einen Vulkan am Ausbruch hindern, kann
der Erde verbieten, zu beben, oder wer kann einem Orkan die Kraft nehmen? Was
hilft uns alles Wissen und alle Weisheit, wenn unsere fantasierte Allmacht dann
am Ende mal wieder von unserer realen Ohnmacht überholt wird?
Überkommen Dich gelegentlich auch mal „Allmachtsfantasien“ oder
sind Dir diese fremd?
Im
Atelier sind Allmachtsfantasien immer zugegen. Ich glaube, sie sind ein
wichtiger Faktor in der künstlerischen Arbeit: Vor meinen Skulpturen bin ich
„allmächtig“ (!) – Auch wenn sie mich ständig in Kämpfe zwingen. Hier kann ich
Schöpfer und Zerstörer sein, hier bin ich niemanden verpflichtet außer mir
selbst.
Wenn
ich das Atelier verlasse, dann verlässt mich auch dieses Allmachtsgefühl. Es
scheint mir, als wenn diese Fantasien an diesen Ort gebunden sind – vielleicht
verwandelt sich deshalb dieser kärgliche und funktionale Raum in einen zuweilen
rauschhaften Ort.
Ich
nehme in Deinen Arbeiten zunehmend eine Tendenz zur Reduktion und zur Vereinfachung
wahr – Du verweigerst Dich dem Verschwenderischen?
Verschwendung
ist doch eigentlich öde!
Nun,
ich spüre die Allgegenwart des wuchernden Chaos, dieser treibenden Kraft, die
ALLES beschleunigt, in Bewegung hält, auseinanderreißt und neu zusammenfügt,
die umschichtet, verwirbelt und überwuchert– eine Kraft, der ich mich nur mit
Anstrengung punktuell entgegenstellen kann. Das macht es erforderlich, Dinge,
die einem wichtig sind, zu bewahren und gleichzeitig hinderlichen Ballast
abzuwerfen, sozusagen mit leichtem Gepäck zu reisen, sich zu reduzieren – im
täglichen Leben und erst recht in der Kunst.
Mit
Deinem Monument
für ein Knäuel wolltest Du dem Chaotischen ein Denkmal setzen?
Ja,
gewissermaßen als Momentaufnahme des Chaotischen – das Chaos im Stillstand –
ein schöner Widerspruch in sich.
Woher
stammt Dein Interesse – oder darf ich sagen: Deine Besessenheit – für das
Knäuel?
Das
Knäuel ist für mich das ultimative Abbild unserer Welt – im Unendlichen unseres
Universums genauso wie im kleinsten Vorstellbaren! Denn ganz egal wo oder was:
Die gerade Linie scheint mir reine Fiktion, ein theoretisches Konstrukt bzw.
Wunschdenken zu sein!
In
der Komplexität unserer Realität herrscht doch eher das Knäuel: ob in der
Verwobenheit unserer Beziehungen mit all ihren Haupt- und Nebenpfaden, mit
ihren Kumulationspunkten und Widersprüchen – und um den Bogen weit zu spannen –
bis in die Struktur der Bausteine unseres Lebens wie die Proteine.
Mich
fasziniert hierbei: Ein Knäuel ist nicht ausrechenbar, es erscheint uns
chaotisch und nicht genau erklärbar – von jedem Blickwinkel auf ein Knäuel
ergibt sich ein anderes Bild. Und das Schönste: Es ist universell und zugleich
höchst individuell, denn jeder hat schon mal eins gesehen und jeder kann sich
mit einfachem Material – zum Beispiel mit einem Stück Draht – und mit wenigen
Handgriffen sein ganz eigenes Universum herstellen.
Das
Knäuel ist für Dich Ausdruck des Universellen, des Unendlichen – ja letzthin
des Göttlichen – siehe Deine Arbeiten aus der Serie Kreuzigung?
Ich
kann mir keine bessere Form zur Versinnbildlichung all dessen vorstellen!
In Deiner Bilderserie Fünf hast Du Dich dem Thema Chaos und
Unendlichkeit von einer anderen Seite genähert – was hat es mit dem Zählen bzw.
Durchzählen in diesen Arbeiten auf sich?
Na
ja, eigentlich machen wir das doch ständig – mal mehr oder weniger bewusst –,
dass wir die Dinge zählen: Wie lange muss ich noch bis zum Feierabend arbeiten,
wie viele Autos stehen vor mir an der roten Ampel oder wie viele Äpfel lege ich
in meinen Einkaufskorb? Durch das Zählen versuchen wir, das uns umgebende Chaos
– oder wenigstens einen Teil davon – zu erfassen, einzuschätzen und es
einzuteilen; wir wollen das Ungeordnete durch eine Ordnung ersetzten, um
letzthin Macht über die Dinge zu erlangen – ein endloses Unterfangen!
Warum
die Zählung in Fünfer- Strichelung?
Es
ist eine sehr einfache Zählweise! Aber mehr noch hat dies einen
autobiografischen Hintergrund: Mein Vater – der ein sehr versierter Handwerker
war – zählte so seine Werkzeuge, Materialien oder die produzierten Werkstücke
durch. Wie er das mit Fünfer-Strichen auf dem Arbeitspapier notierte, ist mir
tief in der Erinnerung haften geblieben.
Deine
Arbeiten entstehen in Serien – birgt dies nicht die Gefahr in sich, dass der Betrachter
zwischen den verschiedenen Serien Brüche im Werk wahrnimmt?
Das
Arbeiten in Serien erlaubt mir, mich meinem Thema aus ganz verschiedenen
Blickrichtungen zu nähern und es unter Verwendung unterschiedlicher Mittel und
Darstellungsformen zu bearbeiten. Innerhalb einer Serie schränke ich mich ein
bzw. reduziere meine Mittel, um die Essenz der Dinge herausfiltern und
gleichzeitig meine Ideen auf die Spitze treiben zu können.
Der
Sprung in eine andere Serie lässt dann oberflächlich betrachtet „einen Bruch“
vermuten – aber das Entscheidende ist: Alle Serien zielen bzw. laufen auf
denselben Kulminationspunkt zu. Oder einfacher gesagt: Alle Satelliten kreisen
um dieselbe Erde.
Wie
bist Du zur Plastik gelangt? War es immer schon Dein Wunsch, Plastiken zu
machen?
Mein
Verhältnis zu Skulpturen und zu Plastiken war zunächst sehr ambivalent: Sie
interessierten mich von frühester Jugend an, aber gleichzeitig irritierten bzw.
verwirrten sie mich, da ich immer das Gefühl hatte, es fehlen die Arbeiten, mit
denen ich mich wirklich identifizieren kann, die für mich sprechen könnten.
Mit
der Zeit wurde mir immer deutlicher, dass es hier eine Fehlstelle gab – dies
brachte mich dazu, dann selber in die Plastik zu gehen und das Arbeiten im
Plastischen hatte sofort etwas Selbstverständliches. Ich hatte und habe noch
immer das Gefühl, dass ich hier meinen eigenen Claim abstecken, beackern und
Früchte nach den eigenen Vorstellungen aus der Erde ziehen kann. Hier kann ich
mich positionieren und verorten, kann Wurzeln schlagen.
Welche
Rolle spielt hierbei die malerische Arbeit? Ist die Herangehensweise dieselbe
wie beim „Plastikenmachen“?
Der
Ausgangspunkt ist derselbe – aber die Herangehensweise ist sehr
unterschiedlich!
Das
plastische Arbeiten erfolgt in einem eher meditativen Prozess und benötigt viel
Zeit, denn Plastiken fordern mich ständig auf, sie zu umkreisen, zu
durchdenken, zu überarbeiten, ihrem Charakter bzw. ihrer Persönlichkeit
nachzuspüren – vergleichbar vielleicht mit einem Kind, das geboren wird, das wächst
und ständige Zuwendung braucht, dessen Stärken und Schwächen man zu erkennen
und in der Folge zu fördern bzw. auszugleichen sucht usw., bis aus dem Kind ein
erwachsener Mensch, eine eigene Persönlichkeit geworden ist, die ihren eigenen
Weg beschreitet.
Meine
malerischen Arbeiten haben ihren Ausgangspunkt grundsätzlich in der plastischen
Arbeit. Die Malerei dient mir dazu, erdachte oder zuweilen nur erahnte
plastische Ausformungen im Bildhaften – sprich im Zweidimensionalen – zu
erproben und zu variieren. Diese Arbeiten entstehen in schneller Aktivität – in
einem impulsiven Akt –, denn der Bauch führt die Hand stärker als der Kopf. Für
Korrekturen ist keine Zeit – Bilder, die nicht funktionieren, werden übermalt.
Diese Form des Arbeitens erlaubt mir, meinen Vorstellungen, meinen Ahnungen,
intuitiv zu folgen, ohne dass ein Korrektiv dazwischen geschaltet ist.
Ich
habe den Eindruck, dass sich Deine Malerei zunehmend von den plastischen
Bezugspunkten löst und ein Eigenleben führt!
Ja,
vielleicht ist das eine Notwendigkeit – auch wenn das bei mir nicht so bewusst
abläuft. Die Bilder wollen nicht mehr nur der Ideenlieferant für die plastische
Arbeit sein, sie emanzipieren sich und gehen ihren eigenen Weg – auch wenn ich
versuche, die Familie zusammenzuhalten.
In
Deinen Plastiken und Bildern arbeitest Du in der Hauptsache mit den Farben
Schwarz, Weiß und Rot. Diese Farben bzw. deren Kombinationen repräsentieren in
vielen Bildwerken und Handschriften des Mittelalters die Alchemie und das
Okkulte.3 War und ist Dir das bewusst und siehst Du Deine Arbeiten
auch in dieser Tradition?
Nein, das war mir nicht bekannt. Ich finde die Farben Rot, Schwarz
und Weiß einfach für meine Arbeiten passend, mehr ist da nicht.
Du hast einmal davon gesprochen, dass Du Dich mit dem plastischen
Arbeiten „auf Deine eigene Spur gesetzt hast“ – wie ist das zu verstehen?
Damit
hatte ich einen Aspekt aus meiner Familienbiografie gemeint: Mein Vater, mein
Großvater und einige andere meiner männlichen Vorfahren arbeiteten im Holzhandwerk
sowie in angrenzenden Bereichen. Ich glaube, dass auch auf diesem Weg die
Leidenschaft zur plastischen Arbeit sowie das Interesse an dem Material an mich
weitergereicht wurden.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
1 Eine Textzeile aus dem Song
Ich Hab’s Gesehen (2006) der Hamburger Band Kante.
2 Gemeint ist die
Arbeit Fountain (dt. „Brunnen“) (1917) von Marcel Duchamp, ein um 90
Grad gedrehtes Urinal (Musée national d’art modern, Centre Georges Pompidou
Paris).
3 Vgl. Jörg
Völlnagel, Alchemie Die königliche Kunst, Köln 2012.
Das hier abgedruckte Gespräch wurde am 2. Februar und 9. Mai 2015 im
Berliner Atelier des Künstlers geführt
zurück